Wohlauf! noch getrunken den funkelnden Wein!
Feierabendkonzert im Oberhafen
„Innig, phantastisch“ ist eine Vortragsanweisung Schumanns an einer Stelle seiner Kerner-Lieder op. 35, die auch Programm des ganzen Zyklus sein könnte. Wir befinden uns mitten im Unklaren und offenen Lebensvollzug.
Gastronomie und Abendkasse 17 h, Konzert 18 h, Lounge 19 h
Mehr zur Reihe: Feierabendkonzert im Oberhafen
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Ulrich Bildstein, Bariton
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Franck-Thomas Link, Klavier
Vorverkauf 9 € / Abendkasse 12 € / Kammerkunstmitglieder frei
Halle 424, Stockmeyerstraße 43, Tor 24, 20457 Hamburg
Robert Schumann,
Liederzyklus op. 35 nach Texten von Justinus Kerner (1840)
Nr. 1 Lust der Sturmnacht
Nr. 2 Stirb, Lieb' und Freud'!
Nr. 3 Wanderlied
Nr. 4 Erstes Grün
Nr. 5 Sehnsucht nach der Waldgegend
Nr. 6 Auf das Trinkglas eines verstorbenen Freundes
Nr. 7 Wanderung
Nr. 8 Stille Liebe
Nr. 9 Frage
Nr. 10 Stille Tränen
Nr. 11 Wer machte Dich so krank?
Nr. 12 Alte Laute
Robert Schumann gab Gedichten Justinus Kerners durch die Zusammenstellung, die er für seinen Liederzyklus op. 35 selbst vornahm, durch gelegentliche Veränderungen am Text und natürlich durch die Komposition selbst einen inneren Zusammenhang. Die Neigung des schwäbischen Dichters, der neben Heinrich Heine der am häufigsten von Schumann vertonte Dichter ist, zum Dunklen und Nicht-Ausgesprochenen kam Schumann entgegen, konnte er doch in Tönen zum Ausdruck bringen, was in den einzelnen Gedichten nicht gesagt wird. Entsagung , Verzweiflung, Flucht vor den Menschen in die namenlose Natur ziehen sich als roter Faden durch die Liederreihe.
„Lust der Sturmnacht“ beschwört die Geborgenheit in der synkopisch erregten Komposition: „Ende nie, du Sturmnacht wilde! Klirrt, ihr Fenster, schwankt, ihr Schilde, Bäumt euch, Wälder, braus', o Welle! Mich umfängt des Himmels Helle.“ Aber innere Ruhe will sich nicht einstellen, das Lied bleibt innerlich erregt.
„Stirb, Lieb' und Freud'“ zeigt in kontrapunktischem, das Kirchliche symbolisierendem Stil die Entsagung eines Mädchens von irdischen Freuden und den Weg zur Nonne.
„Wohlauf, noch getrunken den funkelnden Wein“ ist durch Lösung aus dem Zusammenhang vielfach als Trink- und Wanderlied missverstanden worden. Aber die Wendung nach moll in der letzten Strophe zeigt, dass der Aufbruch keinem Sonntagsausflug, sondern der Flucht aus der Gesellschaft gilt.
Natur wird in „Frisches Grün“, (Kerners Titel: „Frühlingskur“) zum Ersatz für menschliche Kontakte. Die beinahe volksliedhaft einfach gehaltene Singstimme erfährt eine rhythmisierte Begleitung mit bedeutsamen, über den Volkston hinausgehenden Vor-, Zwischen- und Nachspielen.
Aber die offene Landschaft ist zu hell, zu direkt. Der Tonpoet sucht das Dunkle, Phantastische, Introvertierte in „Sehnsucht nach der Waldgegend“. „Innig, phantastisch“ heißt die Vortragsanweisung, die Melodie ist auf sonderbare Weise arios, die Begleitung beschreibt das Unklare in Rhythmik und Harmonik, der Schluss verliert sich im Nichts.
In „Auf das Trinkglas eines verstorbenen Freundes“ konkretisiert Schumann Kerners Titel „An das Trinkglas“. Wie Beschwörungsformeln werden spruchartige Sentenzen in einer Reihungsform musikalisch formuliert. Die Hinwendung zur angedeuteten Magie ist Symbol der Vereinsamung, ein Schlüssel zum Verständnis der Liederreihe.
„Wanderung“ greift musikalisch den Gedanken von Nr. 3 auf, es muss weitergehen. Dieses Wanderlied erwächst aus dem stilisierten Hornruf des Klaviers zu Beginn, aber er soll nicht dominieren. „Frisch, die Begleitung leicht und zart“ schreibt Schumann vor. Vergleichbar in der
musikalischen Motivik ist Schuberts Lied „Die Post“ aus der Winterreise, das ebenfalls den zweiten Teil eines Liederzyklus eröffnet.
Ein Lied über ein nicht bestehendes Lied zu komponieren, ist der musikalische Sinn von „Stille Liebe“. Die monologische Deklamation im Rhythmus des Herzschlags ist im Sinne des Textes noch nicht „Lied“, dessen Melodie liegt im Klavierbass, in der dritten Strophe in den Spitzentönen der gebrochenen Akkorde.
Auch „Frage“ ist ein Selbstgespräch, doch die Fragen finden eine - als Frage formulierte - Antwort. Das Lied kehrt nicht in die Ausgangstonart zurück, bleibt harmonisch offen und bereitet das folgende Lied harmonisch vor.
Dass Weinen befreiend und lösend sein kann, ist eine alte Erfahrung. So wird das Weinen über den eigenen Kummer in „Stille Tränen“ zugleich ersehnt und beklagt. Das Befreiende führt zu großen Kantilenen des Sängers, aus einem Motiv zu ruhig pochend er Begleitung gestaltet. Das Nachspiel fasst die Melodik der Singstimme und Begleitung zusammen, Musik und Sprache sind in einzigartiger Weise eins geworden.
„Wer machte dich so krank?“ und „Alte Laute“ sind bis auf die Einleitungstakte in den Noten gleich, aber im Vortrag abgestuft: „Langsam, leise“ (Nr. 11) und „Noch langsamer und leiser“ (Nr. 12) lassen die Reihe in einem Decrescendo verklingen.
- Gerhard Schuhmacher
Natürlich ist die deutsche Romantik eine regressive Bewegung. Todwund, nach eigener Auskunft, taub vom Urknall der Industrialisierung, traumatisiert vom Wiederhall des Big Bangs der Technisierung, der die Stille zerrissen und das naive Eintauchen ins Hergebrachte unmöglich gemacht hatte.
Heinrich Heine, der größte Künstler und immer noch schmählichst verkannte Sohn Hamburgs, ließ sich von den Schockwellen dieser Explosion mitreißen, akzeptierte die daraus resultierende Heimatlosigkeit als seine Seinsweise. Seine mit Spott und Ironie getränkte Dichtung hat die Distanz als Wesenskern. Nichts lag ihm, der einen freien, europäischen Geist in sich trug, ferner als die Lyrik eines Justinus Kerner, der doch bitte, so Heine, „hübsch patriotisch und gemütlich zu Hause bleiben bei den Gelbveiglein und Metzelsuppen des teuren Schwabenlandes“ möge.
Für Heine war „Doktor Justinus Kerner, welcher Geister und vergiftete Blutwürste sieht und einmal dem Publikum aufs ernsthafteste erzählt hat, daß ein Paar Schuhe, ganz allein, ohne menschliche Hülfe, langsam durch das Zimmer gegangen sind, bis zum Bette der Seherin von Prevorst“ eine mediokre Gestalt, auf die er nach Herzenslust eindrosch, besonders, weil die Anhänger des schwäbischen Dichterkreises, dessen Zentrum Kerner war, ebenfalls keineswegs zimperlich waren und in Heine gar den Untergang des christlichen Abendlandes vermuteten.
Es war eine innig gepflegte Feindschaft. Abgesehen davon kann man Heine und Kerner dennoch als zwei Söhne der selben Zeit sehen, einer, wie Kerner formuliert „argen Zeit“. Das Knalltrauma der beiden ist vergleichbar. Seine politische Enthaltsamkeit wird Kerner oft negativ angerechnet. Sein Sohn Theobald dagegen war am Aufstand 1848 munter beteiligt, was auch als Abgrenzung zum Vater verstanden werden kann. Die Betonung des Deutsch-Nationalen ist ein Zug der deutschen Romantik, ebenso wie die Sehnsucht nach der heilen Welt.
Gegen die Unübersichtlichkeit der Verhältnisse gibt es auch heute einen Ruf nach der Rückkehr zur Nation, zur Leitkultur. Wer Kerner als Kronzeugen dafür benutzen möchte, dass in „arger Zeit“ die Rückbesinnung auf das Eigene die Lösung sei, liegt jedoch total daneben. Nichts lag Kerner ferner als die Augen vor der Realität zu verschließen oder gar Ressentiments zu schüren. Er war Arzt und Naturwissenschaftler. Seine spiritistischen Experimente sind Zeugnis einer überaus feinen Beobachtungsgabe und einer großen ärzlichen Hingabe an seine Patienten. Sein gastfreundliches Haus und seine kommunikative Intelligenz hatten immer heilende, versöhnliche Züge.
In Schumanns Liederkreis op. 35 hallt das Echo eines Big Bangs wieder und wieder nach. Der Zyklus könnte als Psychogramm Kerners gehört werden. Am Anfang steht der Flashback zu einer wilden Liebesnacht. Die Realität bricht im zweiten Lied unmittelbar herein, die Liebe ist für immer verloren. Im dritten Lied flüchtet sich der Held in die Welt, nur um schon im 4. Lied sehnsuchtsvoll der Heimat zu gedenken. Paradies und Vertreibung, Einkehr und Ausdehnung, dies sind die beiden Pole zwischen denen die Liedfolge pulsiert.
Heute stehen wir im Zwiespalt zwischen „place“ und „space“. Space, das ist die offene Stadt, der Kosmopolitismus, die monströse Entgrenzung. Place, das ist die Zugehörigkeit, die Abgrenzung, der orbansche Faschismus. Kerner ist in diesem Sinne ungeheuer modern, beinahe ärztlich-therapeutisch, denn er formuliert diesen Zwiespalt als polare Spannung.
- Ulrich Bildstein
kammerkunst.de/997/